LEITTHEMA
Christentum als Projekt eines Neuen Humanismus: Kritische Relecture der Geschichte in den Texturen des HEILIGEN
Innerhalb der klassischen theologischen Einteilungen kann man die von meinen wissenschaftlichen Weggefährten/innen und mir am Fach Theologische Grundlagenforschung (Fundamentaltheologie) der Universität Wien durchgeführte Wissenschaft den Bereichen Eschatologie/Geschichtsphilosophie und Gottesfrage/Religionsphilosophie zuordnen.
Allerdings sind diese Einteilungen unzureichend geworden, da klar umrissene religiöse Welten und die ihnen entsprechenden theologischen Begrifflichkeiten an ihr Ende gekommen sind oder Transformationsprozessen unterliegen.
Theologie muss sich deshalb heute an der Schwelle zu anderen Disziplinen (Philosophie, Literaturwissenschaft, Physik, Sozialwissenschaften etc.) vollziehen und neuen Fragestellungen Raum geben, die an der ursprünglichen gesellschaftspolitischen und mystischen Aufgabe der Theologie, nämlich Kultur-, Erkenntnis- und Religionskritik zu sein, auszurichten sind.
Aus diesem Zusammenhang heraus versteht sich der Versuch einer Orientierung an fünf Fragen, als Ausfaltungen eines Leitthemas, in dem es um das Projekt eines Neuen Humanismus geht.
Daran mitzuarbeiten (z. B. in Form von Dissertationen und Diplomarbeiten) sind Interessierte aller Disziplinen eingeladen.
Den Hintergrund dieser Fragen bildet die Diagnose, dass es in einer Situation, in der die Menschheit insgesamt auf dem Spiel steht (Auslöschung der Vielfalt des Lebens und der Sprachen, Verlust der Erinnerung, Virtualisierung der Lebenswelten, Ersetzung des Menschen durch technische und biologische Maschinen), eines neuen Blicks auf das Humanum in seiner Singularität, Verletzbarkeit und Unverfügbarkeit bedarf.
Essenziell verbunden ist diese Sicht mit der Suche nach einer Erschließung möglicher Sinnhorizonte der Geschichte sowohl in Wahrnehmung ihrer Brüche als auch in Bejahung der Vielfalt der Daseinsweisen und Erzählungen.
Dem Christentum unserer Zeit ist bei dieser Suche in besonderer Weise die Aufgabe einer kritischen Wahrnehmung der „befremdlichen“ (d. h. nicht assimilierbaren) Dimension des HEILIGEN mitanvertraut, aus dessen ebenso schöpferischen wie gastlichen Texten und Signaturen die Geschichte des Lebens hervortritt.
APOKALYPSE oder die Frage nach dem Wesen der Zeit
HEGEL oder die Frage nach dem Gedächtnis des verhüllten Menschlichen
GOTT oder die Frage nach der Frage überhaupt
EUROPA oder die Frage nach der gastlichen Aufnahme pluraler Lebenswelten
AUFERSTEHUNG oder die Frage nach der Gabe der Sterblichkeit
oder die Frage nach dem Wesen der Zeit – verbunden mit der Frage nach dem Ziel der Geschichte
Angesichts derzeit in unserer Gesellschaft gängiger Zeitkonzepte stellt sich die Frage nach dem Wesen der Zeit mit besonderer Dringlichkeit.
Die erste Herausforderung stellen heute verbreitete kosmologische Modelle dar: Diese haben zu einer ungeheuren Ausdehnung zeitlicher Dimensionen geführt, in denen die menschliche Geschichte nur eine verschwindende Zeitspanne ausmacht angesichts des in Aussicht gestellten entropischen „Kältetodes“ aller bekannten kosmischen Strukturen.
Der Gedanke des Fußnotencharakters menschlicher und lebendiger Existenz wird verstärkt durch heraufdrängende ökologische Krisen, die die gesamte Menschheit vor ein potenzielles Katastrophenszenario bis hin zu ihrer definitiven Auslöschung stellen.
Eine zweite zentrale Herausforderung für ein menschliches Geschichtsverständnis ist die zunehmende Virtualisierung aller Lebensbereiche, verbunden mit dem Versuch der Ersetzung des Menschen durch unsterbliche biologische und technische Maschinen, die Zeit zum beliebig Wiederholbaren herabsetzen und menschliche Erinnerungen und Erzählungen und sogar den menschlichen Tod nihilistisch entleeren.
Angesichts dieses Sinnverlustes gewinnt die Tatsache an Bedeutung, dass die Bibel Texturen des Wesens der Zeit und des Ziels der Geschichte hervorbringt.
In ihnen wird das Menschliche und seine Welt narrativ (neu) erschaffen und erinnernd-prospektiv kritisch zur Sprache gebracht.
Dieser Prozess, der seither vielfache Fortschreibungen und Transformationen in der Philosophie und Literatur erfahren hat, vollzieht sich in einer „befremdlichen“ Begegnung des „HEILIGEN“ (nicht zuletzt in seiner Signatur als JWHW), in der der Mensch aus seinen Selbstbespiegelungen befreit werden soll.
Besondere Bedeutung kommt den apokalyptischen, die Zeit in all ihren Dimensionen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) rekapitulierenden Teilen der Textur zu, in denen die Zukunft des Menschlichen gerade an denen vernommen wird, die aus den Erzählungen und Zugehörigkeiten herausgefallen sind – bis hin zum Geschick, den eigenen Tod überlebt zu haben.
Die Frage dieses Projekts ist also, ob in der Signatur des HEILIGEN ein Ausgang aus einer Welt eröffnet wird, in der es keinen Ort mehr für eine Vision des Menschlichen zu geben scheint und die sich aus der Realität (Sache des Anderen) in virtuelle Phantasmen zurückgezogen hat.
oder die Frage nach dem Gedächtnis des verhüllten Menschlichen – verbunden mit der Überzeugung, dass Hegel es nicht verdient, in „gelahrter“ Wissenschaftlichkeit begraben zu werden und als totalitäres Gedankenmonster herumzuspuken
Hegels Werk, namentlich die Phänomenologie des Geistes, ist ein zentraler Referenzpunkt vieler bedeutender Denker geschichtsphilosophischer Entwürfe, von Heidegger bis Benjamin, vonRicoeur bis Levinas und Agamben
Dazu eröffnet Hegel, so die These, Ausgänge aus der alles positivierenden Gewalttätigkeit unseres Wissenscharakters, mittels der das Menschliche unserer Zeit maskiert ist.
Deshalb sollten Philosophien und Theologien Hegels Dialektik des niemals in positiver Unmittelbarkeit fassbaren Lebendigen/Menschlichen/Geistigen nicht vorzeitig in Aussagen verorten („totalitäres System“,„ zu sich gekommener Weltgeist“,„ Pantheismus“,„ Eurozentrismus“), die dieses Denken bei näherer Betrachtung schon hinter sich gelassen hat.
Die noch größere Gefahr aber besteht darin, Hegels Philosophie zu philologisieren. Dagegen müssen heute die subversiven, analytischen und oftmals überraschenden Potenziale des hegelschen Denkens, die sich besonders an den dialektischen Übergängen („zwischen den Zeilen“) seiner Hauptwerke manifestieren, neu gehoben werden, um zum verletzlichen und sich immer aufs Neue entziehenden Menschlichen zu gelangen.
oder die Frage nach der Frage überhaupt
Die Frage nach Gott galt großen Epochen menschlicher Geschichte als erste und letzte Frage überhaupt.
Nicht zuletzt wurde darin die Frage gesehen, die den Menschen vom Tier unterscheidet, aber auch über den ontologischen Status einer Maschine hebt.
Nach der Zeit der Auseinandersetzungen von Theismus und Atheismus, in der um diese Frage gerungen wurde, scheint sie heute „weltimmanenten“ Fragestellungen gewichen.
Allerdings zeigt sich nicht nur die Hartnäckigkeit und teilweise sogar Neuankunft des Gottesgedankens in nichteuropäischen Kulturen, sondern es deutet sich auch in der westlichen Welt eine Transformation desselben an, insofern, als in Literatur, Film und Musik in verschlüsselter Form die Frage virulent zu sein scheint, was es zu sehen und zu vernehmen gilt, wenn unsere üblichen Welt- und Wissensverkettungen nicht mehr greifen.
In diesem Sinne drängt in einer Zeit, in der Fragen dazu dienen, die Welt in die eigenen Wissens- und Erwartungshorizonte einzukleiden, die den Menschen vielleicht konstituierende Frage nach der Frage überhaupt heran – und eine von ihrer Möglichkeit ausgehende Hoffnung, die immer wieder mit der Signatur Gottes/des HEILIGEN versehen wurde.
oder die Frage nach der gastlichen Aufnahme pluraler Lebenswelten – verbunden mit der Frage nach Signaturen der Neuankunft Gottes
„Europa“, dessen Wurzeln in Afrika und Asien liegen und welches sich Gründungsgeschichten gastlicher Heimatlosigkeit verdankt (Odysseus, Vergil, Abraham, Jesus), ist jener geschichtliche Ort, an dem die große Entdeckung der menschlichen Selbstbestimmung des Einzelnen, verbunden mit der Demokratisierung aller Lebensbereiche, in ihren mannigfaltigen Möglichkeiten die gesamte Lebenswelt seiner Bewohner durchdrungen hat.
Als Kehrseite manifestiert sich heute die Gestalt eines völlig stupiden, Europas Pluralität an Sprachen,(religiösen und nichtreligiösen) Erzählungen, kulturellen, geschichtlichen und ästhetischen Traditionen nivellierenden egozentrischen Konsumentendaseins.
Aus diesem, so die leise Hoffnung, vermag vielleicht eine weitere Signatur des europäischen Geistes herauszuführen, nämlich das lange – und wenngleich immer wieder verdrängte, so doch als moralische Pflichtbewusste – (kollektive) Gedächtnis des gefährdeten und versehrbaren Menschlichen.
Wird dieses Gedächtnis – so die Frage – die vielstimmigen Erzählungen verletzten und bestandenen Lebens unzähliger die „Festung Europa“ zu durchbrechen suchender Migranten/innen in eine neue Wahrnehmung des Menschlichen zusammenführen können?
Und wird die sich an Europas Rändern vielleicht anzeigende Neuankunft Gottes aktuelle Signaturen – „christlich“, „jüdisch-christlich“, „abrahamitisch“, „humanistisch“, „aufgeklärt“, „säkular“, „demokratisch“, „universal“ – in einen neuen Erfahrungshorizont weisen?
oder die Frage nach der Gabe der Sterblichkeit – verbunden mit der Frage nach dem Ausgang aus der Welt der lebenden Toten
In der paganen Antike galt es, die Welt der Toten von der Welt der Lebenden fernzuhalten, während im Christentum an der Gemeinschaft der Lebenden und der Toten festgehalten wurde.
Heute wird die Sterblichkeit des Menschen wieder mit aller Vehemenz vor den Lebenden verborgen und immer mehr zum Arkanum (Geheimnis) einer säkularen Gesellschaft, der der Tod als schreckliche Leere eines alles vernichtenden Nichts entgegentritt.
Der sich daran knüpfende Versuch aber, das Leben ins Unendliche zu verlängern, dessen Spiegel wir in den endlos sich wiederholenden medialen Landschaften wahrnehmen können, gibt uns seinerseits die schauerliche Ahnung einer „Welt“ jenseits von Leben und Tod, in der sich sogar der Tod selber „überlebt“ und in eine (unsere?) „Welt der lebenden Toten“ führt.
Vielleicht, so die Frage, entkäme man der Aporie von nichtendem Tod und zukunftsloser Ewigkeit gerade dann, wenn man die Sterblichkeit und Verletzlichkeit des Menschen als (gleichwohl beunruhigendstes und oft bitterstes) Geschenk und Einladung zu einem Abschied aus eigenen Besitzzwängen (Lk 17,33; Joh 21,22 u. a.) wahrzunehmen begänne?
Und könnte nicht auch in diesem Zusammenhang die Vermutung erwachen, dass der zentrale christliche Satz „Jesus ist auferweckt worden“ und die sich daran knüpfende Erwartung der Auferstehung des Fleisches zum ewigen Leben zuerst ein Satz über die Sterblichkeit des Menschen und nicht über dessen Unsterblichkeit ist?